Leistungsbestimmende Faktoren im Segeln
Der olympische Segelsport ist durch das Zusammenspiel von athletischen und psychischen Anforderungen, technischen Bewegungsabläufen auf dem sich bewegenden Segelmaterial, Wettereinflüssen und der hohen Bedeutung von Strategie und Taktik eine komplexe und anspruchsvolle Sportart. Insbesondere die jüngste Weiterentwicklung der Boots- und Boardklassen hin zu foilendem Equipment intensiviert das Anforderungsprofil in den Bereichen Kondition, Koordination und Technik. Mit der fortlaufenden Entwicklung der Disziplinen wird sich auch das Anforderungsprofil mit seinen Leistungsvoraussetzungen weiter verändern.
Um im Hochleistungsalter die internationale Spitze zu erreichen, ist eine systematische und langfristige Leistungsentwicklung der Seglerinnen und Segler entscheidend. Im Folgenden werden die leistungsbestimmenden Faktoren im Segeln kurz erläutert, wobei beachtet werden muss, dass sich die spezifischen Anforderungsprofile der einzelnen Segeldisziplinen unterscheiden.
Anthropometrische Anforderungen
Da die Segler*innen an Bord ihres Boots- und Boardmaterials durch Gewichtstrimm die physikalischen Hebelgesetze nutzen, bringen eine große Körpergröße und ein hohes Körpergewicht vorteilhafte biomechanische Voraussetzungen mit sich. Gleichzeitig müssen Größe und Gewicht aber auch den Ansprüchen der Konkurrenzfähigkeit bei Leichtwindbedingungen und der notwendigen Gewandheit der jeweiligen Disziplin gerecht werden. Die anthropometrischen Anforderungen (insbesondere das Körpergewicht) unterscheiden sich daher in den Segeldisziplinen.
Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über die "idealen Körpermaße" für die jeweilige Disziplin. Natürlich gibt es immer wieder individuelle Ausnahmen, die ebenfalls zum Erfolg führen können, allerdings unter erschwerten Bedingungen. Die angegebenen Maße unterliegen einer stetigen Anpassung durch neues oder verändertes olympisches Material, Weiterentwicklung des Materials und der Technik.
Athletische Anforderungen
Besonders die Bereiche Koordination, Kraft und Stabilität spielen im Segelsport eine große Rolle. Mit der Entwicklung der Disziplinen hin zu foilendem Material sind die Bewegungsmuster komplexer geworden und die koordinativen Anforderungen weiter gestiegen.
Die spezifischen Anforderungen an die physische Fitness der Seglerinnen und Segler sind sehr abhängig von der Disziplin/ Bootsklasse, den Aufgaben an Bord und dem Wettkampfformat und -niveau. Ein Überblick der athletischen, disziplinspezifischen Anforderungen befindet sich im nächsten Abschnitt. In den Zwei-Hand-Disziplinen sind die physischen Anforderungen (insbesondere Kraft) für die Vorschoter*innen deutlich höher als für die Steuerleute.
Im Bereich Athletik der RTK wird im Detail auf die Anforderungen jeder Trainingsetappe eingegangen.
Psychische Anforderungen
Neben den athletischen Fähigkeiten hat auch die Psyche einen Einfluss auf die Erbringung einer stabilen Wettkampfleistung.
Folgende psychische Anforderungen charakterisieren den Segelleistungssport:
- Die Ausübung von Leistungssport bringt immer auch eine psychische Belastung mit sich: hohe Trainings- und Wettkampfbelastungen, Verzicht auf andere Freizeitaktivitäten (Hobbys, Zeit mit Freunden und Familie, Feiern etc.), Leistungsdruck gegenüber Unterstützern und Sponsoren. Ein leistungssportförderlicher Lebensstil, ebenso wie die Fähigkeiten Durchhaltevermögen, Zielstrebigkeit und Resilienz fördern einen erfolgreichen Leistungsaufbau.
- Bedingt durch die Komplexität der Sportart Segeln liegt das Hochleistungsalter im Olympischen Bereich in der Regel zwischen 25 und 32 Jahren. Folglich sind für den langen Weg an die internationale Spitze motivationale Ausdauer, Beharrlichkeit und eine hohe Selbstorganisation von großer Bedeutung.
- Die Komplexität des Segelns durch unterschiedliche Wetter- und Windbedingungen, sowie der großen Bedeutung von Strategie und Taktik verlangen den Segler*innen Kompetenzen in den Bereichen räumliches Vorstellungsvermögen, Beobachtungsgabe, Multitasking und Entscheidungsfähigkeit ab.
- In den Zwei-Hand-Bootsklassen sind Teamfähigkeit, Verlässlichkeit und eine gemeinsame nachhaltige Zielfindung wichtige Faktoren.
- Je höher das Leistungsniveau im Wettkampf ist, desto entscheidender wird die mentale Stärke. Gezieltes Training psychologischer Kompetenzen steigert die Erfolgschancen.
Weiterführende Informationen befinden sich im Bereich Sportpsychologie.
Technische Anforderungen
Die technischen Anforderungen beginnen bereits mit dem Interesse an der Auseinandersetzung mit den technisch-physikalischen Zusammenhängen (Aerodynamik und Hydrodynamik) und der Bootstechnik/ dem Material. Weitere Anforderungen sind:
- Die optimale Zielgeschwindigkeit auf allen Kursen bei unterschiedlichen Bedingungen (Gewichtstrimm, Segeltrimm, Steuertechnik, Fahrmodus, Wellen- und Pumptechnik)
- Die sichere Beherrschung aller Manöver bei unterschiedlichen Bedingungen (Kursänderungen, Bugwechsel, Bahnmarkenmanöver, Strafmanöver "Kringel")
- Routine beim Handling (z.B. Automatisierungseffekt, Bewegungsharmonie, Antizipationsfähigkeit, ...)
- Technik am Start (Fahrt-, Manöver- und Positionskontrolle)
Strategische & taktische Anforderungen
Um im Wettkampf je nach Wetterbedingungen und Gegnersituation die richtigen Entscheidungen treffen zu können, sollten folgende Kenntnisse und Fähigkeiten vorhanden sein:
- Beherrschung der grundlegenden und speziellen Strategie- und Taktikkonzepte
- Sichere Kenntnis und Anwendung der aktuellen Wettfahrtregeln
- Gegnerorientierung: Flexibilität bei der taktischen Aktion/Reaktion
- Sicherheit bei der Orientierung im Feld (räumliches Vorstellungsvermögen): eigene Position, Veränderung und Auswirkungen der externen Bedingungen einschätzen (Wetter-Wolken-Wind, Strömung, Welle, Bahnmarken, Küstenformation…)
- Beobachtungsgabe und Multitasking-Fähigkeit
Technologische Anforderungen
Die Integration neuer Technologien in das Training und die Wettkampfvorbereitung eröffnet neue Möglichkeiten für die Leistungsanalyse und -optimierung. Athletinnen und Athleten müssen in der Nutzung und Interpretation dieser Technologien geschult werden, um von den detaillierten Auswertungen und dem erweiterten Informationsangebot profitieren zu können. Diese Weiterbildung ist essenziell, um den technologischen Fortschritt effektiv in die Leistungssteigerung zu integrieren.
Wettkampferfahrung
Olympisches Segeln ist eine Erfahrungs-Sportart, insbesondere durch die sich stetig verändernden Wettkampfbedingungen. Kein Wettkampf gleicht einem anderen in Bezug auf Wind, Wetter, Strömung und Gegnersituation. Dies spiegelt auch das Hochleistungsalter von ca. 25 - 32 Jahren im Olympischen Segeln wider.
Ein Erfahrungsschatz aus folgenden Bereichen steigert die Erfolgsaussichten auf eine stabile Wettkampfleistung:
- Beherrschung der Wettkampfsituationen: vom „Partner-Clinch“ bis zum internationalen Großfeld
- Routine in der leistungsgerechten Abwicklung der Wettkampfphasen (von der Vorstartphase zum Zielwettkampf bis zum Protestverfahren)
- Sicherheit im Umgang mit der Wettkampf-Organisation
- Abrufbares Repertoire von wettkampfbestimmenden Aktions- bzw. Reaktionsmustern
Unterstützendes Umfeld & finanzielle Sicherheit
Der Einfluss der Umfeld- und Rahmenbedingungen für den Leistungssport sollte nicht unterschätzt werden. Das Ziel besteht darin ein individuelles, leistungssportförderliches Umfeld aufzubauen, in dem die Athlet*innen den Segelleistungssport über viele Jahre ausüben könenn und möchten. Dies beinhaltet:
- verlässlicher, nachhaltiger Rückhalt im privaten Umfeld (Familie und Freunde)
- mittelfristige bzw. langfristige Integration des Leistungssports in die „Lebensplanung“
- leistungssportförderlicher Lebensstil: optimale Trainingsroutine aus Wassertraining, Athletik, Physiotherapie, Materialarbeit, Sportpsychologie, Theorie und Projektplanung sowie sportgerechter Ernährung und Schlafroutine
- Stabilität in der Schule und anschließende Duale Karriere im Leistungssport
- Der Kreis beteiligter Personen an einer Segelkampagne wächst - es entsteht ein Netzwerk u.a. aus Verband, Trainer*innen, Olympiastützpunkt, Vereinen, Sponsoren und weiteren unterstützenden Institutionen, mit denen regelmäßig kommuniziert und gemeinsam geplant werden muss.
- Finanzielle Sicherheit: Integration in das Fördersystem, Sponsoring
Spezifische Anforderungen der Disziplinen
Die folgende Tabelle gibt einen Überblick inwieweit sich die athletischen und technischen Anforderungen zwischen den Bootsklassen unterscheiden.
In den Zwei-Hand-Klassen (49er, 49er FX, 470er und Nacra 17) ist hervorzuheben, das die athletischen Anforderungen in der Tabelle primär auf die Aufgaben der Vorschoter*innen abzielen. Durch die Aufgaben Segeltrimm, Gewichtstrimm und Längstrimm sind die Anforderungen an die Vorschoter*innen insbesondere in den Bereichen Kraft und Koordination höher als die Anforderungen an die Steuerleute.
Folgende Punkte können als Basisanforderungen an alle Segler*innen verstanden werden:
Wind und Wetterkunde
- Klimatologische Kenntnisse
- Meteorologische Kenntnisse
- Windindikatoren
- Revierbedingte Meteorologie
- Landeinflüsse auf den Wind
- Temperatur (Luft/Wasser) auf den Wind
Wellen- und Strömungskunde
- Wellenkunde
- Wellentaktische Prinzipien
- Wellenstrategische Prinzipien
- Strömungskunde
- Strömungstaktische Prinzipien
- Strömungsstrategische Prinzipien
- Veränderte Kursgeometrie
- Theorie zu Welle, Strömung, Segelstrategie und Segeltaktik
Großraumtaktik
- Kreuztaktik
- Raumwindtaktik
- Vorwindtaktik
- Taktischer Plan
Kleinraumtaktik
- Taktik am Start
- Taktik in der Nachstartphase
- Taktik auf freiem Bahnschenkel
- Taktik an Bahnmarke und Ziel
Großraumstrategie
- Kreuzstrategie
- Raumwindstrategie
- Vorwindstrategie
- Strategischer Plan
Kleinraumstrategie
- Strategie am Start
- Strategie in der Nachstartphase
- Strategie auf freiem Bahnschenkel
- Strategie an Bahnmarken und Ziel
Wettkampfregeln
- Wettfahrtregeln Segeln, aktuellste Fassung
- Segelanweisungen
- Klassenregeln
- Regeln für besondere Wettkämpfe
Trimmtechnik
- Einfache Trimmtechniken
- Bedienungen der dyn. Trimminstrumente
- Einstellung statischer Trimmgrößen
Fahrtechnik
- Amwind
- Raumwind
- Vorwind
- Böentechnik
- Pumptechnik
- Wellentechnik
Mannövertechnik
- Kursänderungsmanöver
- Bugwechselmanöver
- Manöver der Seemannschaft
- Bahnmarkenmanöver
- Ersatzstrafenmanöver
Technik am Start
- Fahrtkontrolle
- Manöverkontrolle
- Positionskontrolle
Material
- Hydrodynamisches Verständnis für Rumpf und Anhänge
- Areodynamisches Verständnis für Rumpf, Mast und Segel
Kommunikation
- Im Zweihand-Team
- In der Trainingsgruppe
- Mit dem Bundestrainer
- Mit dem Spitzenverband
- Mit dem Verein
- Mit Sponsoren/Mäzenen
- Selbstgesprächsregulation
Trainingsdokumentation
Seit 2017 nutzt der DSV zur Trainingsdatendokumentation das Tool TeamDataLog (TDL) der Schweizer Firma wavein.ch. Alle Daten sind entsprechend der Datenschutzrichtlinien auf einem Server in Deutschland gespeichert. Das Tool verfügt sowohl über ein Web-Interface als auch eine mobile App, die für iOS und Android verfügbar ist.
Die Trainer*innen nehmen im TDL die Trainings- und Wettkampfplanung für ihre Trainingsgruppe vor. Die Kadersportler*innen können die Planung einsehen, tragen ihre Trainingsdaten ein und synchronisieren das System mit ihren Pulsuhren (Garmin oder Polar). Eine detaillierte Analyse jeder Trainingseinheit ist somit möglich. Die Analyse beinhaltet u.a. die durchgeführten Trainingsinhalte (siehe Abb.2), ebenso wie einen Fitness Report nach Belastungselementen (siehe Abb.1).
Des Weiteren haben die Kadersportler*innen die Option, ihr Trimmtagebuch über das TDL zu führen. Hierfür dokumentieren sie die Trimmeinstellungen ihres Bootes für den jeweiligen Trainings- oder Wettkampftag. Das TDL bietet verschiedene Funktionen zur Analyse und Filterung der erhobenen Trimmdaten an.
Das System TDL wird regelmäßig an die Anforderungen der Kadersportler*innen angepasst und weiterentwickelt. Mittel- bis langfristig soll es um eine Materialverwaltung und eine Vernetzung des Trimmtagebuchs mit einer Analysesoftware für das Wassertraining erweitert werden.
Leistungsdiagnostik
In Zusammenarbeit mit dem Olympiastützpunkt (OSP) Hamburg/Schleswig-Holstein, dem Kompetenzteam Medizin und dem Athletiktrainer wurde ein leistungsdiagnostischer Test entwickelt. Ziel war es, einen standardisierten Test zu entwickeln, der den sportartspezifischen Anforderungen gerecht wird und gleichzeitig eine Vergleichbarkeit der verschiedenen Disziplinen ermöglicht. Ein Schwerpunkt bei der Entwicklung des Tests war die Schaffung einer hohen Güte hinsichtlich Reliabilität und Retest-Reliabilität, um eine langfristige Vergleichbarkeit der Daten zu ermöglichen und Trends frühzeitig zu erkennen.
Die Sportler*innen werden zweimal im Jahr getestet, in der Leistungsaufbauphase und zu den Zielwettkämpfen. Neben Ausdauer, Kraftausdauer und Maximalkraft werden die Sportler*innen unter anderem anthropometrisch vermessen. Die gewonnenen Daten ermöglichen individuell angepasste Trainingspläne und zeigen Verletzungsrisiken auf (siehe Abb. 3: Athletikindex und Verlaufsentwicklung).
Auf Basis dieser Leistungsdiagnostik wurden auch die bundesweiten Tests der Altersklassen 13 bis 15 Jahre und die zentrale Sichtung der Altersklassen ab 15 Jahren am Bundesstützpunkt in Kiel entwickelt. Somit besteht die Möglichkeit, die langfristige Entwicklung der Sportler*innen zu erfassen und in der Planung und Beratung individuell auf diese einzugehen.